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Der Sieg des deutschen Favoriten Emmanuel Macron [am vergangenen Sonntag, Anm. der Redaktion] bei der Präsidentenwahl in Frankreich wird laut Einschätzung von Experten die Spaltung im Land weiter vertiefen und der extremen Rechten noch mehr Unterstützer zutreiben. Davor warnen bekannte Sozial- und Politikwissenschaftler wie der Soziologe Didier Eribon und der Politologe Hans Stark. Stark zufolge führt der Unmut über die deutschen Austeritätsdiktate in Frankreich mittlerweile zu einer "Deutschland-Kritik", die "von mindestens zwei Dritteln der Franzosen" geteilt wird. Eribon rechnet damit, dass eine Präsidentschaft des gegenüber Berlin fügsamen Bankers Macron die jetzt in Frankreich noch vorhandenen Hemmungen, die extreme Rechte zu wählen, weiter verringern wird - wenn er das Land auch in Zukunft der deutschen Sparpolitik anpasst und damit die sozialen Gräben noch mehr vertieft. Dessen ungeachtet wirbt Berlin ganz offen für Macron, der bereits im Januar erklärt hat: "Ich vertraue Deutschland." "Sein Erfolg wäre ein positives Signal für die politische Mitte", äußert Bundeskanzlerin Angela Merkel. In deutschen Medien wird der Kandidat als "Berliner Lieblingsfranzose" geführt.

Düstere Zukunft

Hintergrund der Warnungen, der erwartete Wahlsieg von Emmanuel Macron werde noch mehr Franzosen an die Seite des Front National (FN) von Marine Le Pen treiben, sind die Verwerfungen, denen die französische Wirtschaft unter der deutschen Dominanz in der EU ausgesetzt ist. Seit die Eurokrise im Jahr 2010 offen eskalierte, ist es Berlin stets gelungen, die deutsche Austeritätspolitik gegen Paris durchzusetzen - zunächst gegen Präsident Nicolas Sarkozy1, dann gegen Präsident François Hollande2. Für Frankreich, das ökonomisch traditionell deutlich stärker auf staatliche Eingriffe setzt und das wegen größerer Widerstände in der Bevölkerung Lohnkürzungen nicht so leicht durchsetzen kann wie Deutschland, hat sich dies katastrophal ausgewirkt: Seine Industrie ist nach wie vor der deutschen Konkurrenz unterlegen und kommt nicht recht auf die Beine; die ökonomische Lage ist schlecht. Dies wird von der Bevölkerung deutlich wahrgenommen. Wie eine aktuelle Umfrage zeigt, beurteilen 75 Prozent aller Franzosen die wirtschaftliche Situation ihres Landes negativ. 76 Prozent halten die Zukunftsaussichten der Jugend für ungünstig. Lediglich 27 Prozent stimmen dem aktuell herrschenden ökonomischen System zu. Nur 19 Prozent sind der Ansicht, die französische Politik gewähre der Wirtschaft des Landes ausreichend Unterstützung.3

Nach Berliner Modell

Emmanuel Macron wird in Frankreich - zutreffend - als Unterstützer der Berliner Austeritätspolitik wahrgenommen. Dies liegt nicht nur an seiner Vergangenheit als Investmentbanker, sondern auch daran, dass er in seiner Zeit als Wirtschaftsminister unter Hollande (August 2014 bis August 2016) deutschen Forderungen Folge geleistet hat. Sein Amtsvorgänger Arnaud Montebourg hatte offen gegen die deutschen Spardiktate opponiert und im August 2014 in einem Zeitungsinterview erklärt, Paris dürfe sich "nicht mehr alles gefallen lassen": "Wenn wir uns der extremistischen Orthodoxie der deutschen Rechten anpassen müssen, dann bedeutete das ..., dass die Franzosen, auch wenn sie die französische Linke wählen" - Montebourg meinte den regierenden Parti Socialiste -, "in Wahrheit für die Anwendung des Programms der deutschen Rechten stimmen." Man müsse endlich "einen anderen Ton anschlagen".4 Unmittelbar darauf wurde Montebourg entlassen. Macron übernahm sein Ministerium - und erarbeitete eine Arbeitsmarktreform nach deutschem Modell. Die Reform ("Loi Macron"), die nur mit einem Notartikel am Parlament vorbei durchgesetzt werden konnte, rief wochenlange, sogar für französische Verhältnisse starke Massenproteste hervor.5 Mit der klar an Deutschland orientierten Loi Macron wird der Präsidentschaftskandidat bis heute identifiziert.

"Ich vertraue Deutschland"

Das führt dazu, dass Macron in Deutschland große Popularität genießt. Die Bundesregierung hat sich im Wahlkampf vor der ersten Runde der Präsidentenwahl aktiv für ihn eingesetzt; so hat etwa Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble wörtlich geäußert: "Wahrscheinlich würde ich Macron wählen."6 Macron genießt die Sympathie der deutschen Leitmedien; vor kurzem hieß es anerkennend über ihn, er werbe - anders als einst Hollande - "nicht mit der Aussicht auf eine deutsch-französische Machtprobe", sondern verheiße "einen Aufbruch".7 Auch vor dem zweiten Wahlgang hat Berlin unverhohlen in den französischen Wahlkampf interveniert. Zwar hatte der Staatsminister im Auswärtigen Amt Michael Roth (SPD) schon bald nach dem ersten Wahlgang gewarnt, Macron dürfe keinesfalls als "deutscher Kandidat" wahrgenommen werden, da ihm dies schaden könne.8 Dennoch hat Bundeskanzlerin Angela Merkel recht früh deutlich gemacht, dass sie ihn favorisiert, und am Mittwoch offen erklärt: "Sein Erfolg wäre ein positives Signal für die politische Mitte, die wir ja auch hier in Deutschland stark halten wollen."9 "Deutschland würde Macron wählen", titeln deutsche Medien mit einem Hinweis darauf, dass der Kandidat in der Bundesrepublik mit 72,8 Prozent der Stimmen einen größeren Umfragevorsprung gegenüber Marine Le Pen erzielt (19,5 Prozent) als in Frankreich. Macron hatte schon im Januar erklärt: "Ich will viel mehr Europa, und ich will es mit Deutschland. Ich vertraue Deutschland."10

Der Unmut wächst

Anders verhält es sich in Frankreich. Zwar liegt Macron in Umfragen vorn, weil die Abneigung, eine Politikerin der extremen Rechten zu wählen, nach wie vor überwiegt. Doch verdeckt sein Vorsprung einen massiven und immer weiter wachsenden Unmut über die deutsche Dominanz in der EU. "Franzosen, die nicht von der Globalisierung profitieren, die abgehängt sind, sehen in Europa heute keinen Nutzen mehr, sondern vielmehr den Grund für den nationalen Niedergang", berichtet etwa der an der Pariser Sorbonne lehrende Politologe Hans Stark, ein Fachmann für die deutsch-französischen Beziehungen.11 In Frankreich gebe es inzwischen "eine massive Kritik an der Art, wie die EU-Wirtschaftspolitik gestaltet wird"; dies betreffe "vor allem die Sparpolitik". "Frankreich kommt damit nicht zurecht - und das seit über 40 Jahren", konstatiert Stark. Das Land sei "immer wieder durch äußeren Druck, insbesondere von Deutschland, gezwungen" worden, "zu sparen", obwohl das seinen wirtschaftspolitischen Traditionen diametral widerspreche; es "leidet also an dem Kurs, der von der EU und besonders eben Deutschland bestimmt wird". Immer stärker werde daher die schon jetzt "massiv" zu spürende "Deutschland-Kritik": "Ich schätze, dass diese Kritik von mindestens zwei Dritteln der Franzosen, wenn nicht sogar mehr, geteilt wird."

Die Hemmungen schwinden

Beobachter warnen, ein Deutschland gegenüber fügsamer Präsident Macron werde die Spaltung Frankreichs weiter vertiefen; das könne bei der nächsten Wahl Marine Le Pens Front National (FN) zur Mehrheit verhelfen. Treibe Macron die Unterordnung unter die deutsche Austeritätspolitik weiter auf die Spitze, dann sei damit zu rechnen, dass die jetzt noch vorhandenen Hemmungen, sich der extremen Rechten zuzuwenden, schwänden, urteilt etwa der prominente französische Soziologe Didier Eribon. Eribon sagt vor dem mutmaßlichen Erfolg des deutschen Favoriten Macron an diesem Sonntag mit Blick auf die in einigen Jahren folgende nächste Präsidentenwahl voraus: "Wer Macron wählt, wählt Le Pen."12


Anmerkungen:
1 S. dazu Die Macht in Europa.
2 S. dazu Der nächste Krisensieg und Le modèle Gerhard Schröder.
3 Deutsche optimistisch, Franzosen pessimistisch. Frankfurter Allgemeine Zeitung 26.04.2017.
4 S. dazu Unter der deutschen Rute (II).
5 S. dazu Der Preis der Deregulierung.
6 S. dazu Frankreichs Wahl.
7 Michaela Wiegel: Das Frankreich, das wir verdienen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.04.2017.
8 Merkel will Macron als Partner. www.spiegel.de 28.04.2017.
9 Catharina Felke: Deutschland würde Macron wählen. www.zeit.de 04.05.2017.
10 Christoph Hasselbach: Macron - oder die Sintflut. www.dw.com 05.05.2017.
11 Leila Al-Serori: "Macron will nicht als Marionette Deutschlands dastehen". www.sueddeutsche.de 04.05.2017.
12 Didier Eribon: "Wer Macron wählt, wählt Le Pen". www.sueddeutsche.de 20.04.2017.



 
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